König Karotte

Le Roi Carotte – Ein Bildungsroman als LSD-Trip


Hier hat Maitre Offenbach seinen Enkeln, den amerikanischen Ausstattungsmusicals, noch bevor es sie überhaupt gab, gezeigt, wo der Hammer hängt – wie so etwas radikal gemacht wird!

Schauen wir auf die Handlung:

1. Akt: Der junge König Fridolin hat die Staatskasse und seinen gesamten Besitz verschleudert – ein gedankenloser Vergnügungunssüchtiger. Um diese prekäre Situation zu beheben, muss er sich mit der Prinzessin Cunegonde vermählen.

Nun treten Vertreter des Zauberreichs auf den Plan: Der gute Geist Robin-Lorin, ein spritziger Geist aus der Flasche, der zunächst als Student auftritt – er möchte ihn das rechte Leben lehren und ihn so zu einem König machen, der zu Recht seiner Fähigkeiten wegen auf dem Regierungssessel sitzt. Die böse Macht ist die Hexe Coloquinte – sie hat sich den Untergang Fridolins geschworen und hält zudem die schöne, echte Seele Rosée-du-Soir gefangen.

 

2. Akt: Cunegonde und Fridolin treffen sich. Cunegonde entpuppt sich als frisches Mädchen, das mit allen Pariser Wassern gewaschen ist. Die Hexe Coloquinte lässt nun den Roi Carotte mit einem grossen Heer allerlei Sorten Gemüses auftreten und durch einen Zauberstreich die Herrschaft übernehmen. Die plötzlich lebendig gewordenen Ritterrüstungen sämtlicher Ahnen Fridolins, die dieser leichtfertig verkauft hatte, rächen sich nun und verbannen auf Seiten des Gemüses den jungen König.

Der indianische Zauberer Quiribiri gibt Fridolin den Tip: Rettung gebe es nur, wenn er im Besitz des Rings König Salomons sei. Den wiederum gäbe es nur im Reich des vor zwei Jahrtausenden versunkenen Pompeji. Die Einsatztruppe (Fridolin, Robin-Lorin und Rosée-du-Soir) unternimmt nun eine Zeitreise („time tunnel“) und erlangt den Ring während eines spektakulären Vesuvausbruchs. Cunegonde, unter dem zauberischen Einfluss der Hexe Coloquinte, bringt – Fridolin heisse Liebe vorspielend – den Ring an sich. Fridolin findet Schutz beim Volk der Insekten (grosser Aufmarsch etlicher Insektenarten!).

 

3. Akt: Der ehemals potente Roi Carotte ist zwischenzeitlich verwelkt, verschrumpelt. Es droht eine Revolte gegen ihn. Coloquinte beruhigt ihn: Keine menschliche Hand könne ihn entthronen! Also bringt Robin-Lorin einen Affen ins Spiel... Roi Carotte, Coloquinte und das gesamte Gemüse müssen wieder dorthin, wohin sie eigentlich gehören: unter die Erde. Fridolin, gereift am Ziel seiner Bildungsreise, besteigt wieder den Thron und heiratet die in ihrer einfachen Schönheit umwerfende Rosée-du-Soir. Ende.

 

Tja, Aufstieg und Fall – wer zahlt die Spesen? Wenn man den ROI CAROTTE richtig machen möchte, wird es teuer. Viele Intendanten und Dramaturgen suchen ihr Heil im radikalen Strich ganzer Spielorte. Damit zerstören sie das, was den ROI CAROTTE so bahnbrechend macht: Er ist eine Bildungsreise, eine bissige Gesellschaftssatire und ein schrill-bunter LSD-Trip zugleich: ein Gemüse-Fabelreich, das antike Pompeji, ein indianischer Zauberer, das Reich der Insekten... Er ist ein Hollywood-Ausstattungs-Musical und gleichzeitig alles andere zugleich – zudem natürlich die selbstironische Parodie des Genres.

 

Der ROI CAROTTE hat ein geschliffenes Libretto aus der Hand von Victorien Sardou (von dem z.B. die Theatervorlage von Puccinis TOSCA stammt) – in ihm ist ein handfestes politisches Konzept enthalten: „Flirte nicht mit den Liberalen, schon gar nicht mit den Radikalen (radix, lateinisch die Wurzel, sprich die Möhre)!“ Für das historische französische Kaiserreich hiess das: Das Kaiserreich stützt sich auf das Volk, bricht dafür mit dem Bürgertum, ruft den Radikalismus zu Hilfe und wird von diesem zerstört. Zu diesem Verlauf gibt es historische Parallelen genug.

 

 

 

Textbeispiele:

 

No.3  Rondo de la Princesse

 

Cunegonde

In unsren Kreisen ist’s üblich:

Ein Mädchen g’hört ins Internat!

Das ist für’s Mädchen betrüblich,

weil es dort kein’n Spass mehr hat!

 

Beim Abitur ich mich grämte,

ich war ein ganz trübes Licht,

provinziell, prüde, ich schämte

mich für alles und nichts!

 

Mein Vater kam zum Gratulieren,

sah mich und lachte mich aus:

„Wie konnte das nur passieren?

Was für eine graue Maus!

 

Lass uns was Neues probieren:

Allons, enfants, par Paris!

Du wirst das Leben dort studieren,

dort wohnen Herz und Esprit!“

 

Wir besuchten einen Schneider,

sehr modern und haute couture,

bei ihm bekam ich heisse Kleider

und eine schrille Frisur!

 

Bei den Honoratioren

 machte ich überall

in der Gesellschaft Furore

auf dem grossen Opernball.

 

Mein Kleid war tief ausgeschnitten,

die Jungs war’n ausser Rand und Band,

sie sah’n mir tief in die ... Augen,

küssten galant mir die Hand.

 

professionell sah ich Damen,

von ihnen lernte ich viel...

Es zähl’n nicht Status, Rang und Namen,

nur Chic und sex appeal!

 

Die Resultate war’n blendend,

Männer luden mich zu sich,

die Schlange nahm gar kein Ende,

die Männer schlugen sich um mich!

 

Viele habe ich erhört,

und bekam einen gewissen Ruf...

Das hat mich noch nie gestört,

so bekam ich täglich Besuch.

 

Wir gingen nachts Hummer essen,

machten uns den Tag zur Nacht,

feierten zärtliche Messen

und taten, was glücklich macht.

 

In diesem Männerhaifischbecken

schwamm ich sicher, schwamm ich kühn,

ich habe nichts zu verstecken –

wenn’s sein muss: nackt ohne Kostüm!

 

Ob Minister, Professoren,

in Kirche und Politik,

ich machte überall Furore

und ein unendliches Glück! Kurz:

 

Das ist Edukation,

die jedes Mädchen sich wünscht,

ich war `ne halbe Portion

und bin nun ein ganzer Mensch!

Eine Frau, endlich `ne Frau! Ja!

 

Sitzt dein Sohn brav auf dem Stuhle,

macht Musik und Sport und liest,

nimm ihn direkt aus der Schule

und schick ihn schnell nach Paris.

 

Macht deine Tochter Bambule,

wie gut du sie auch erziehst,

nimm sie direkt aus der Schule

und schick sie schnell nach Paris!

 

No. 13  Couplets du Diplomatie

 

Pipertrunck

 

1. Wir seh’n die Abendsonne versinken,

so ist nun mal der Zeiten Lauf!

Wir stell’n uns gut mit ihr, denn hinten,

da geht sie morgen wieder auf!

 

Unsere Erde dreht sich weiter,

was oben ist, nicht oben bleibt,

jeder will hoch auf seiner Leiter –

sei gut zu dem, der unten bleibt...

 

Dieser Tanz wird nie enden,

stets wechselt die Musik,

du musst dich drehen und wenden –

das nennt man Politik!

 

 

2. Wohin es geht, kannst du nicht wissen –

du drehst dein Fähnchen nach dem Wind.

Und ist das Wetter heut’ be...scheiden:

Geh niemals ohne Schirm, mein Kind!

 

Kommst du nicht mehr auf deine Kosten,

du willst verschwinden, denn dir stinkt’s!

Nein, halte aus auf deinem Posten,

dreh dich nach rechts, dreh dich nach links!

 

Dieser Tanz wird nie enden,

stets wechselt die Musik,

du musst dich drehen und wenden –

das nennt man Politik!

 

No. 23   Choeur des Fourmis

 

Chor

Graue Arbeitsbatallione,

blaue Landwirtschaftsschwadronen,

Frauenqualitätskontrollen,

Plansoll voll erfüllen sollen!

 

Nullbilanzen, schnelle Wellen,

Wertausfälle in Tabellen,

Spareffekte, nackte Fakten,

Arbeitskraft im Arbeitstakt.

 

Dunkle Tunnel, tiefe Schächte,

Dämme bauen, Wasser stauen,

stets zu vieren operieren,

unteriridisch Luft zuführen.

 

Millionen Drohnen wohnen,

nie die Produktivkraft schonen,

Proletariat in guter Stimmung

mit der richtigen Gesinnung,

unser Ziel: Plansollerfüllung!

Ja!

 

Graue Arbeitsbatallione,

blaue Landwirtschaftsschwadronen,

Frauenqualitätskontrollen,

Plansoll voll erfüllen sollen!

 

Ganz entschieden demokratisch,

in der Innung Mitbestimmung,

läuft auch mal was schief im Kollektiv –

wir sind sozial initiativ,

die Arbeitskraft die Werte schafft,

das Kollektiv!

Mit Disziplin und Kampfmoral

erobern wir das Kapital!

Mit Disziplin und Kampfmoral

vergrössern wir das Kapital!