Tom Jones

TOM JONES - Comédie lyrique von François-André Philidor, in der Neufassung von Wolfgang Böhmer und Rogier Hartmann. Neuköllner Oper, Berlin 2002

 

"Was Wolfgang Böhmer und Rogier Hardeman mit ihrer deutschen Neufassung wagten, war daher ein kleiner Geniestreich: Statt sich an den Nettigkeiten des Librettos abzuarbeiten, gaben sie ihrer Fielding-Begeisterung Raum und ersetzten den gesprochenen Dialog weitgehend durch Passagen aus dem Roman - ohne die mit historischen Instrumenten dargebotenen Musiknummern anzutasten." (Tagesspiegel, Berlin)

 

Wie lässt sich aus einem Roman von 2x570 Seiten ein Libretto verfassen für eine Oper?

Philidors Librettist Antoine Alexandre Henri Poinsinet hat die Frage in bewährter und radikaler Manier beantwortet: Tochter will partout nicht den, den Papa will – Held, gut und gutaussehend, erfährt eine eher qualvoll leidende Karrier – Papa und Mama machen Druck – Gegenspieler, böse und hässlich, intrigiert und landet schliesslich dennoch im Dreck – Held und Tochter Zungenkuss – alles gut!

 

Bei Poinsinet funktioniert alles (was nicht gegen ihn spricht). Die Tür geht auf, Tochter weiss nicht, was Mama schon weiss, die Tür geht zu, der Held ist schön-leidenschaftlich-tugendvoll, aber auch ein wenig langweilig., Tür wieder auf, Papa tobt, Tür zu, Tochter weint, draussen singen die Jäger... klipp-klapp geht das Komödienmaschinchen. Allein, es gibt in Richtung Original ein Problem: Von den 1140 Seiten hat Poinsinet rund 1000 weggelassen!

 

Der erfahrene Operndramaturg weiss, sehr viel anders geht es nicht: Roman bleibt Roman, Oper bleibt Oper und die Kirche im Dorf. Episches, Ambivalentes, Räsonierendes steht gegen ziselierte, explosive Musikdramatik.

 



Philidors TOM JONES.

Henry Fieldings Zeitgenossen rühmten vor allen sein Talent, ein Tableau unvollkommener, widersprüchlicher Charaktere zu schaffen, die der menschlichen Natur und dem an Überraschungen manchmal unliebsam reichen Leben näherstanden als jede göttergleiche Idealfigur.

 

„Welche Begabung! Welche Kraft! Welch klarer Verstand und welche Beobachtungsgabe! Welch gesunder Hass gegen Trivialität und Betrug! Welch weitgehende Sympathie! Welche Heiterkeit! Welch mutige Lebensauffasung! Welch Menschenliebe! Wieviele Wahrheiten hat doch dieser Mensch hinterlassen!“  Der englische Dochter William Makepiece Thackeray war noch 100 Jahre später sprachlos-stammelnd vor lauter Lob.

 

Kann man das für die Oper retten? In unserer Fassung fehlen vielleicht rund 600 Seiten des Originals: Arbeitstitel „Die Oper zum Roman!.

 

Wir haben versucht, die Klipp-Klapp-Komik des französischen Librettos ins Humoristische zu steigern, durch Erzählhaltungm Wiedersprüchlichkeit der Figuren, Brüche, doppelten Boden und – Fielding im Originalton!!!

Das ist vielleicht das grösste Wagnis des Projekts: Die Szenen bestehen aus Dialogen und Textfragmenten der Romanvorlage, die wir in mühsamer detektivischer Kleinarbeit zusammengestellt und kondensiert haben.

 

Das ist nun eine harte Nuss für den Operngänger wie für den Opernsänger: Das Theater arbeitet mit Texten, die ursprünglich nicht fürs Theater geschrieben wurden. „Kontraproduktiv fürs Musiktheater“, wirft der erfahrene Operndramaturg dazwischen. „Zu schwer für Sänger“, der Sprechlehrer.

 

Sind die Sprechteile des französischen Originallibrettos oft nicht mehr als eine notwendige Brücke zur nächsten Nummer, die wenigen Schritte Anlauf zum Sprungbrett des Gesangs oder der Musik – so folgt aus unserer Fassung eine Akzentuierung des Sprachlichen, eine Gewichtsverschiebung hin zum Sprechtheater. Musik- und Sprechtheater stehen im Clinch, in konkurrierender Spannung. Das Gesprochene ist eine Art Gegenpol, eine Vertiefung der Musik aus dem Geiste des Romans. Etwas Episches dringt in die Komödie.

 

Aus dem Programmheft. Very British....